COVID-19 und die Pflicht zur Rationalität

Als zuletzt 2019 die Übernahme von Kosten für Homöopathie durch die Krankenkassen diskutiert und deren Abschaffung vorgeschlagen wurde, bestritt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Relevanz eines solchen Schrittes. Es lohne nicht, Anhänger alternativer Medizin vor den Kopf zu stoßen, wo doch der zu verhandelnde Betrag so gering sei. Seit 2010 können Krankenkassen ihren Kunden Homöopathika als sogenannte "Satzungsleistungen" anbieten. Auch die homöopathische Therapie kann durch die Krankenkasse finanziert werden. Wer sich die Krankenkassenübersicht der Deutschen Homöopathie-Union (DHU) anschaut, sieht schnell, dass an Homöopathie Interessierte keine Schwierigkeiten haben werden, eine entsprechende Versicherung zu finden.

Unterstützung fand Spahn dabei auf Seiten der Grünen. So sei die "Komplementärmedizin [...] eine wichtige Ergänzung der Schulmedizin", sagte Kordula Schulz-Asche. Auf Seiten der Grünen ist die Zustimmung zu alternativen Heilmethoden traditionell ohnehin am größten – in offensichtlicher Spannung zum neuerdings propagierten Selbstverständnis als Partei der Wissenschaft. Von Claudia Roth hörten wir, als sie am Rande eines Parteitags der Grünen 2019 auf das Thema Alternativmedizin angesprochen wurde: "Natürlich sind wir die Partei der Wissenschaft. Aber es gibt so 'ne Wissenschaft und so 'ne Wissenschaft."

Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die Liberalen, die den Heilpraktikerberuf schon mal ganz abschaffen wollten, wenngleich sie von dieser radikalen Haltung später wieder abrückten. Der gesellschaftliche Widerstand gegen die Abschaffung war einfach zu groß. Und so verschwand das Thema schnell wieder von der politischen Tagesordnung.

Der Burgfriede

Im Bundestagswahlkampf 2021 fand die Diskussion nicht mehr statt; auch der Koalitionsvertrag schweigt zum Thema. Es scheint ein Burgfriede eingekehrt auf der Grundlage einer angenommenen gesellschaftlichen Irrelevanz des Themas: Mögen die, die Alternativmedizin befürworten, auf Globuli zurückgreifen, und alle anderen dies tolerieren.

Der allgemeine Konsens scheint zu sein, dass Alternativmedizin bestenfalls eine gute Ergänzung zur Schulmedizin ist, schlechtestenfalls eine überflüssige, aber unschädliche Zusatzveranstaltung. Manche mögen an die Wirksamkeit der Heilmethoden selbst glauben. Andere propagieren, dass doch zumindest der Placebo-Effekt real sei, oder dass sich der Heilpraktiker oder Homöopath mehr Zeit für seine Patienten nehme und dies doch einen positiven Effekt haben könne. Und sollte es solche Wirkungen nicht geben, dann schade die Komplementärmedizin doch nicht.

Im Hintergrund dient die Auseinandersetzung zwischen Alternativ- und (von dieser so titulierter) "Schul"-Medizin vielleicht noch dazu, Unterschiede in der Weltanschauung und Lebenseinstellung zu kommunizieren. So wird das "Sanfte" und "Natürliche" der Naturheilkunde dem "Künstlichen" und der Chemie der Pharmaindustrie, wird das "Gefühlige" der Alternativmedizin der kalten Rationalität der modernen wissenschaftlich-technischen Medizin gegenübergestellt. Zusammen mit den verbreiteten Ressentiments gegenüber Pharmakonzernen und einem ebenso verbreiteten Vorurteil zugunsten der Unschädlichkeit des Natürlichen kann sich die Anhängerschaft der Alternativmedizin wohlig heimelig fühlen. Dass auch Giftschlangen, Pest und Cholera mit einigem Recht Anspruch auf den Status des Natürlichen erheben, stört da wenig. Die Irrationalität der Alternativmedizin ist ein Privileg der technisierten, wissenschaftlich aufgeklärten Welt, die von Natürlichkeit weitgehend entlastet ist. Es gilt als private Marotte ohne gesellschaftliche Relevanz oder zumindest ohne wirkliche Schädlichkeit.

Individuelle Freiheit und die Wahl der Behandlung

Ausgerechnet aus dem Lager der Grünen – der traditionell treuen Verteidigerin der Alternativmedizin – ertönt nun mit steigender Lautstärke die Forderung, mangelnde Impfbereitschaft durch gesetzlichen Zwang auszugleichen. Und damit kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Jeder mündige Mensch hat aktuell das Recht, über seine medizinische Behandlung ohne jede eigene Qualifikation selbst zu entscheiden.

Wer eine Behandlung ablehnt, benötigt dafür nicht zwingend einen Grund, den wir als guten Grund anerkennen können. Man betrachte etwa die Ablehnung von Bluttransfusionen durch Angehörige der Zeugen Jehovas, die sich dabei auf Aussagen der Bibel stützen. Ich möchte diesen Grund hier nicht kleinreden, ganz im Gegenteil: Es handelt sich um subjektiv sehr gewichtige Gründe, wenngleich mir die Voraussetzungen fehlen, um sie als meine Gründe anzuerkennen. Und solang sie nicht beanspruchen, medizinische Gründe zu sein, sind sie intellektuell auch nicht so unredlich wie die Pseudowissenschaftlichkeit mancher Alternativmediziner. Ähnliches gilt für die Ablehnung einer medizinischen Behandlung aus beliebigen anderen Gründen. Niemand kann oder sollte gegen den je eigenen Willen zu einem Eingriff gezwungen werden. Dafür werden keine Gründe verlangt, die jemand anderes nachvollziehen oder gar als potentiell eigene Gründe anerkennen kann, einfach, weil dafür gar keine Gründe verlangt werden. Es reicht aus, dass die individuelle Entscheidung rein die eigene Gesundheit betrifft.

Nun mag es heute angeraten sein, sich über individuelle Entscheidung gegen die Impfung gegen SARS-CoV-2 hinwegzusetzen und eine allgemeine Pflicht zur Impfung einzurichten. Gründe dafür gibt es viele. Sie liegen alle darin begründet, dass in diesem Fall die Entscheidung, die jeder und jede selbst zu treffen hat, das je eigene Schicksal transzendiert. Die Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, kommen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, die Versorgung wird gerade im Bereich der Intensivmedizin geschwächt, die gesamte Gesellschaft steht vor schwerwiegenden Einschnitten. Vor diesem Hintergrund sind Ungeimpfte politisch wie moralisch in die Kritik geraten. Ist es korrekt, diejenigen zu tadeln, die eine Impfung gegen SARS-CoV-2 verweigern?

SARS-CoV-2 und die Ethics of Belief

Unter denen, die eine Impfung verweigern, mag es nun die unterschiedlichsten Ansichten und Einstellungen geben. Sie gelten als Trittbrettfahrer, insofern sie einen Schutz in Anspruch nehmen, der aus der Immunisierung der Menschen um sie herum resultiert, ohne einen eigenen Beitrag durch Impfung zu leisten. Dies nimmt an, dass sie die Situation realistisch einschätzen, also gerade nicht irrational sind und nun im eigenen Interesse handeln. Dies mag vorkommen, es ist unmoralisch und zu tadeln. Diese Vorstellung hat aber den entscheidenden Haken, dass ein solcher Schutz in der aktuellen Situation kaum zu erwarten ist. Der Ungeimpfte muss über kurz oder lang damit rechnen, infiziert zu werden. Und da hilft ihm nur noch der Schutz der eigenen, nicht der fremden Immunisierung. Rational ist daher auch für den Egoisten eigentlich nur die Impfung.

Viele Menschen, die die Impfung verweigern, haben irrationale, aber ehrliche Überzeugungen: Sie glauben, dass die Impfung ihnen nicht helfen, sondern womöglich eher schaden wird. Nun ist es eine Binsenweisheit, dass wir unsere Überzeugungen nicht willkürlich ändern können. Wenn ich sehe, dass es regnet, kann ich diese Überzeugung nicht nach Belieben durch die alternative Überzeugung ersetzen, dass die Sonne scheint. Und wenn ich der Überzeugung bin, dass eine Medizin mir schadet, dann kann ich diese Überzeugung nach außen verbergen, indem ich mich in Widerspruch zu ihr verhalte. Aber ich kann die Überzeugung selbst nicht einfach ablegen. Insofern sind wir darin, was wir für wahr halten, nicht frei. Und daraus scheint wiederum zu folgen, dass Überzeugungen nicht Gegenstand moralischer Urteile sein können: Wir können allem Anschein nach niemanden für eine Überzeugung tadeln, da wir unsere Überzeugungen nicht in unserer Gewalt haben. Ultra posse nemo obligatur.

Können wir sie dann dafür tadeln, ihrer Überzeugung gemäß zu handeln? Ich glaube nicht. Wäre eine Impfung nicht im Interesse des jeweils Geimpften, sondern nur im Interesse Anderer, wäre eine Impfpflicht ethisch schwer zu rechtfertigen. Und damit kann sich auch jeder im Recht sehen, der von der Schädlichkeit der Impfung überzeugt ist und entsprechend handelt.

Heißt das nun, dass wir im Bereich der Überzeugungen keinen Raum für moralische Urteile haben? Nein, es gibt durchaus Platz für eine epistemische Ethik, eine Ethics of Belief. Nur zielt diese nicht auf das Fürwahrhalten einzelner Überzeugungen, sondern auf den Prozess des Erwerbs und des Hinterfragens von Überzeugungen. Zwar können wir uns nicht einfach für oder gegen eine Überzeugung entscheiden. Aber wir können beeinflussen, wie wir über eine Überzeugung nachdenken, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken und welchen Argumenten wir Gehör schenken. All das liegt in unserer je eigenen Verantwortung. Genauso wie es in unserer je eigenen Macht steht, wie wir auf die Überzeugungen anderer reagieren, welche Fragen und Einwände wir artikulieren, wem wir unsere Zustimmung geben und welchen Aussagen wir widersprechen. Wie groß diese Verantwortung ist, zeigt sich in der Situation einer Pandemie, wo irrationale Überzeugungen eben keine persönliche Marotte mehr sind, sondern Menschenleben, Freiheit und Wohlstand gefährden.

Und hier stoßen wir wieder auf unseren sorglosen Burgfrieden zur Alternativmedizin. Die meisten Irrationalitäten im Bereich der Alternativmedizin sind für sich betrachtet von geringer Relevanz. Nur in Ausnahmesituationen erlangen sie die entsprechende Bedeutung. Gefährlich ist die Förderung einer Nachlässigkeit im Denken, weil sie sich unweigerlich auch auf andere Bereiche ausdehnt. Irrationalität bestärkt sich selbst, wenn sie unwidersprochen bleibt oder gar gefördert wird.

Erstaunt es uns wirklich, dass Menschen die neuesten Entwicklungen der Pharmaindustrie für gefährlicher halten als einen natürlichen Krankheitserreger? Dass ihnen ein mit Hilfe von Gentechnik durch ein Unternehmen der Pharmabranche neu entwickelter Impfstoff suspekt ist? Wer über Jahre und Jahrzehnte hinweg die Irrationalität "sanfter Medizin" verharmlost, Homöopathie von Krankenkassen übernehmen lässt, Heilpraktiker mit staatlichen Zertifikaten ausstattet und den Mythos von sanfter Natur und böser Technik befeuert, sollte sich jetzt nicht über diejenigen aufregen, die genau dem auf den Leim gegangen sind.

Die Wirkung ähnelt der einer Droge, mit der sich Menschen in den Zustand mangelnder Zurechnungsfähigkeit begeben. Wir können dann die Handlungen, die in diesem Zustand unternommen werden, nicht mehr tadeln. Und so können wir diejenigen, die tief im Sumpf der Irrationalität versunken sind, nicht dafür tadeln, dass die jetzige Situation sie intellektuell heillos überfordert. Ihre medizinischen Fehlurteile sind moralisch nicht verwerflich. Der Weg in die intellektuelle Verantwortungslosigkeit jedoch ist es. Wir können sehr wohl Menschen für eine Bequemlichkeit in ihrem Denken und Urteilen tadeln, wenn sie zu gründlichem Denken noch in der Lage sind. Und wir können diejenigen tadeln, die eine solche Bequemlichkeit fördern, statt sie zu bekämpfen. Es gibt eine moralische Pflicht zum verantwortungsvollen Denken. Und es besteht eine dringende Notwendigkeit liberaler Staaten, Mündigkeit zu fördern und Irrationalität zu bekämpfen.

Alternativmedizin und Verantwortung

Das Gefährliche an der Alternativmedizin liegt nicht in den Kosten und auch nicht in den Konsequenzen für den einzelnen Patienten. Das sagt nicht, dass die individuellen Kosten und gesundheitlichen Folgen nicht gravierend sein können. Wer sich gegen eine Chemotherapie und für eine alternative Heilmethode entscheidet, mag dafür mit seinem Leben bezahlen. Es geschieht dadurch jedoch niemandem Unrecht und es steht niemandem zu, denjenigen dafür moralisch zu tadeln, sich selbst geschädigt zu haben. Wir können dies eine Angelegenheit jedes Einzelnen sein lassen und der Eigenverantwortung überlassen.

Wir sehen aber auch, wie die geduldete Irrationalität unerwartet Relevanz erhalten kann. Die Irrtümer und Ängste, die die Menschen befällt und von der einzig richtigen Entscheidung abhält, sie sind real. Menschen denken tatsächlich, dass ihnen großer Schaden durch die Impfung droht, dass sie sich in unmittelbarer Gefahr befinden. Diese Irrtümer und Ängste sind unnötig, denn sie sind irrational. Diese Irrationalität wiederum ist das Produkt der Nachlässigkeit vergangener Tage. Indem wir Homöopathie und Alternativmedizin wider alle Vernunft förderten und dem Heilpraktikerwesen einen staatlich zertifizierten Platz in unserem Gesundheitswesen zuerkannten, bereiteten wir den Boden, auf dem Irrationalität gedeihen konnte. Es wird höchste Zeit, dies zu unterbinden.

Links

  • Liste der Homöopathie versichernden Krankenkassen für das Jahr 2021, abgerufen am 27.11.2021 PDF.
  • "Spahn will Homöopathie auf Kassenkosten nicht antasten", aerzteblatt.de vom 18. September 2019, abgerufen am 27.11.2021: www.aerzteblatt.de
  • "Homöopathie-Streit: Fabian Köster verteilt Globuli bei den Grünen | heute-show vom 22.11.2019", abgerufen am 27.11.2021: youtube.
  • "FDP will Heilpraktikerberuf jetzt doch erhalten", aerzteblatt.de, abgerufen am 27.11.2021: www.aerzteblatt.de.
  • "FDP will Heilpraktiker langfristig abschaffen", aerzteblatt.de, abgerufen am 27.11.2021: aerzteblatt.de.
  • "Was sagt die Bibel zum Thema Bluttransfusion?", jw.org, abgerufen am 27.11.2021: jw.org.
  • William Clifford: "The Ethics of Belief" (1877), abgerufen am 27.11.2021: PDF